Es ist noch früh am Morgen, aber das ist nun mein Leben. Es ist für mich immer wieder erstaunlich, dass ich jetzt diese erwachsene Frau bin mit ihren eigenen drei Kindern. Und du, der du immer mein großer Bruder warst, warst ja mit deinen 19 Jahren eigentlich ein Küken. Damals natürlich nicht und in meinen oder deinen Augen schon gar nicht. Und in meiner Vorstellung bist du auch immer noch der Größere von uns beiden. Das bleibt.
Heute früh sind schon Tränen geflossen. Das hat mich mal wieder überrascht. Gestern habe ich hier diese Seite eingerichtet und die ersten Texte eingestellt, das ging alles relativ emotionslos. Und so ist das manchmal. Ich kann Menschen völlig klar und nüchtern von dir erzählen und auch davon, was passiert ist. Dann sind sie oft bestürzt und wissen nicht, was sie sagen sollen. Ich bin dann diejenige, die sagt: „Ist schon okay, es ist halt so.“ Dabei ist das ja alles andere als okay. Und dann gibt es diese Tage, da höre ich Musik und es trifft mich irgendwo tief in mir drin und die Tränen kommen einfach. Dann ist da so eine Traurigkeit, die kaum zu beschreiben ist. Es geht nicht um das, was passiert ist. Es geht viel mehr darum, dass mir das passiert ist. Dass ich hier allein auf der Welt stehe und diesen Scheiß erleben musste. Denn das war es damals. Ein richtiger Scheiß, den ich nicht begreifen konnte. Gleichzeitig fühlt sich das egoistisch an, denn in Wahrheit ist ja dir dieser Scheiß passiert. Aber du hast nichts mehr davon mitbekommen. Zumindest hoffe ich das. Genau wissen wir das ja nicht, aber zu vermuten ist, dass du recht schnell weg warst. Für dich wurde es still, während bei uns das größte Unwetter dann erst aufzog…
Und dann ist da ganz viel Traurigkeit darüber, dass du einfach verdammt nochmal nicht hier bist. Dass ich dir keine Nachricht schreiben kann, dich nicht anrufen kann, wenn mir danach ist. Keine Ahnung, ob ich das tun würde, ich telefoniere ja nicht so gern. Bei dir wäre das vermutlich anders. Und all die Fragen darüber, wie dein Leben heute aussehen würde. Wo du wohnen würdest, wie und mit wem, ob du Kinder hättest. Die wolltest du ja immer, du hattest sogar schon Namen für sie im Kopf. Ein Romantiker warst du schon, auch wenn man das von außen sicher nicht so gesehen hat. Ich habe so viele Seiten von dir mitbekommen. Dafür bin ich dankbar.
Dann muss ich die Kinder wecken und die Tränen wollen einfach nicht aufhören. Ich liebe sie so sehr und hoffe, dass ich in meinem Leben genug Scheiß miterlebt habe, damit sie unversehrt bleiben. Bei mir bleiben. Diese Angst muss ich immer wieder schlucken, das ist wohl etwas, was ebenfalls bleibt… Ich versuche mich immer wieder zu erinnern, dass Sorgen ja sinnlos sind, denn im schlimmsten Fall sorgt man sich doppelt, im besten Fall völlig umsonst. Den Moment zu genießen, so wie er ist, das ist wohl die größte Kunst. Haben wir die gemeinsamen Momente genossen? Wir hatten viel Spaß, daran kann ich mich erinnern. Woran ich mich nicht erinnern kann, das ist der letzte Abschied. Ich weiß nicht mehr, wann du gefahren bist und weil du ja nur drei Tage wegbleiben und dann für vier Wochen Urlaub nach Hause kommen wolltest, haben wir das auch nicht so ernst genommen. Heute weiß ich, dass jeder Abschied ein wichtiger ist. Weil man nie weiß, wann man sich wirklich wiedersieht. Und ob überhaupt.
Und dann gehe ich in meinen Alltag über. Ich lache mit den Kindern, tanze durch die Küche, bringe sie zur Schule und mich in die Arbeit. Ich schalte um auf Funktionieren. So geht das schon immer. Die Gedanken an dich wandern in den Hintergrund. Nur weg gehen sie nie, die bleiben für immer und das ist auch verdammt nochmal gut so.
So oft gehen die
„Elefant für dich“ – Wir sind Helden
Die noch nicht weg gehen wollten
Und ich weiß, ich weiß und ich ertrag es nicht
Halt dich bei mir fest, steig auf, ich trage dich
Bis bald,
Dein Küken